Videocollage (20 min) (2021)
Scratchface RETURNS erzählt die Geschichte der titelgebenden Figur Scratchface. Die entstandene Filmwelt ist in vielen Bereichen deckungsgleich mit unserer Welt, aber hier und da gibt es Unstimmigkeiten im Abgleich mit der Wahrnehmung der Welt, wie wir sie täglich erleben. Anhand der Figur Scratchface wird das Publikum durch mehrere Abschnitte, Lebensphasen, Themen und Problemstellungen geführt. Disziplin und Ordnung werden gelehrt. Gesellschaftliche Einflüsse und innere Zwänge werden erfahren. Harmonie und Rebellion werden gelebt. Liebe und Freude gehören ebenso in die Flut der Eindrücke wie Gewalt und Leid. Jeder Einfluss hinterlässt eine Kerbe, eine Spur, eine Wunde im Gesicht der Menschheit. Die Verletzlichkeit der Schöpfung wird symbolisiert und gipfelt im Tod. Durch die Aufopferung Scratchface und seiner/ihrer metaphorischen Auferstehung wird die Stärkung eines jeden Individuums, gar die Verbreitung seines Daseins, deutlich.
Die Existenz von Scratchface erzeugt ein Paradoxon. Einerseits fungiert das Zerkratzen des Gesichts als Anonymisierung der Person und weist auf die Anonymität der Menschen in der heutigen Gesellschaft hin. Andererseits dient es der Individualisierung, macht Scratchface als solche(n) erst erkennbar beziehungsweise lebendig und macht ihn/sie sogar zu etwas Erhabenem.
Auf gestalterischer Ebene ist das Zerkratzen der bewusste Eingriff durch den Künstler und eine Art Stempel des Schöpfungsprozesses. Bezüglich des Filmmaterials ist der Kratzprozess gewaltvoll, denn er zerstört es und bietet so Grundlage zur Auferstehung aus den Lehren des analogen Zeitalters.
Scratchface RETURNS wird durch einen Recyclingprozess der Lehrfilmrollen in einer freien Struktur erzählt. Diese Struktur ermöglicht einen großen Freiraum für die Gedanken des Publikums. Jede Person erfährt andere Assoziationen zwischen Bildern und Tönen. Ästhetik und Antiästhetik in einem Werk vereint zeigen die Paradigmen der heutigen Welt und regen die Zuschauer*innen dazu an, diese mit ihren eigenen Erfahrungen wahrzunehmen, ihre eigene Identität und die gesellschaftlichen Einflüsse miteinander abzugleichen. Der Grundton ist stets der gleiche, doch die persönliche Erfahrung des Films ist für jede Person individuell. Die zerbrechliche Filmstruktur erfordert ein aktives Filmerlebnis und steht somit als Gegenpol zum aktuellen Immersionskino großer Produktionen.
Text: Frederic Klamt